Valli Ossolane – vom Lago d’Orta in’s Wallis

Donnerstag, 3. September, Freidorf – Omegna – Quarna Sotto – Monte Saccarello

Endlich Ferien in diesem schwierigen und herausfordernden Corona-Jahr. Nachdem unsere geplante Reise in den Südwesten der USA ebenso wie das Pferdetrekking in den Corbières dem  Virus zum Opfer fielen, wird ein alter Plan nun Wirklichkeit. Schon lange habe ich die Ossolatäler westlich des Fiume Toce im Auge. Und seit der Club Alpino Italiano, Sezione Piemonte, in Zusammenarbeit mit dem dem kleinen Verlag Geo4Map in Novara  damit begonnen hat, hervorragende 25’000er Landkarten zu publizieren, ist diese Region auf der Direttissima in meinen Fokus gerückt. Bereits vor 2 Jahren habe ich mit diesen Karten  im etwas nördlicher gelegenen Isorno-Gebiet Erfahrungen sammeln können und war begeistert. Die SwissTopo-Crew in Wabern hat ernstzunehmende Konkurrenz erhalten.
Der Wetterbricht für den Süden sieht recht gut aus. Seit einem Jahr plane ich eine Wanderung im Val Strona, stundenlang habe ich über der Landkarte gebrütet und im Internet recherchiert. Nun soll es also wahr werden. Da das zusätzlich bestellte Kartenmaterial noch nicht eingetroffen ist, wird es in Domodossola einen kurzen Aufenthalt mit Besuch in der alteingesessenen Libreria Grossi geben. Dort gibt es alles, was das bibliophile Herz begehrt.
Jean bringt mich zum Bahnhof, es ist noch dunkel. Er und Linus waren drei Wochen in Norwegen, nun wird er zu Bienen, Garten und Langohren schauen, und ich kann entspannt in die Berge entschwinden. Mit dem direkten Zug ab Amriswil ist man in drei Stunden in Brig, mit dem Regio geht’s weiter bis Iselle Trasquera und von dort, wegen Bauarbeiten, mit dem Bus bis Domodossola. Benvenuti in Italia 😊 Ich erwerbe meine Landkarte, geniesse die Atmosphäre in der schönen Alpenstadt und besteige dann zwei Stunden später den Bus nach Omegna. Er fährt durch alle Dörfer entlang des Fiume Toce, womit ich gleich auch eine sehr anschauliche Geographielektion erhalte.

Omegna verströmt einen eher herben Charme, obwohl direkt am tiefblauen Lago d’Orta gelegen. Es ist heiss, der Verkehr dicht, der Rucksack, der die Verpflegung für die nächsten knapp 10 Tage enthält, schwer, und der Weg nicht gleich auf Anhieb zu finden. Dann klappt’s eine Weile ganz gut, bis sich Markierungen und Wegweiser komplett verabschieden. Die Laghetti di Nonio halten sich erfolgreich versteckt, und nach Auffinden des Laghetto di Bria gibt es eine ausgedehnte Irrung durch dichten Wald, Adlerfarn, Erlen und Brombeeren, bis ich auf einem Acquedotto schlussendlich den schönen, in komfortablen Spitzkehren angelgten Weg hinauf nach Quarna Sotto finde.  Langsam aber sicher wird es Abend, es ist immer noch heiss, und ich habe Durst. Quarna Sotto begrüsst mich nicht nur mit Hundegebell, sondern auch mit einem munter plätscherndem Dorfbrunnen. Alle Zellen füllen, dann der letzte, steile Aufstieg, 500 Höhenmeter, es ist 7 Uhr, um halb neun wird es dunkel, ich weiss, was ich zu tun habe. Der Wald ist steil, zum Glück, das gibt Höhenmeter, freundlich-helle Birken lösen die dürstere Weymouth-Plantage ab, es wird ruhiger, dann still, beim Bildstöckli auf dem Monte Saccarello gibt’s tatsächlich ein paar flache, ausgemähte Quadratmeter, unten blinken bereits die Lichter von Omegna, die Eulen rufen, der aufgehende Vollmond spendet Licht beim Aufstellen des Zeltes, essen kann ich auch im Dunklen noch was. Angekommen, das Abenteuer darf beginnen. Zahlreiche Nachtvögel rufen, auch Forschern unbekannte. Die Nacht ist warm.

Freitag, 4. September 2020, Monte Saccarello – Monte Mazzucone – Fornero – Massiola – Piano del Pozzo

Da es bereits September ist, sind die Nächte lang, und man steht gerne im ersten Morgengrauen auf. Z’morge mit Aussicht, Ortasee und weiter gen Süden die nebelverhüllte Poebene.

Ein schöner Pfad bringt mich, vorbei an und um Felsen herum, auf den Gipfel des Monte Mazzucone, grandiose Aussicht in alle Himmelsrichtungen, vom Val Grande bis zu den noch weit entfernten, schneebedeckten Walliser Viertausendern. Zwei alte Männer mit Pilzkörben kommen auch hinauf, um dann anschliessend ihrer so typisch italienischen Leidenschaft zu frönen. Nach den sintflutartigen Regenfällen der letzten Woche sollten sie ja spriessen, die behuteten Gesellen, tun sie seltsamerweise aber nicht.
Nach der Bocchetta Luera, wo sich tatsächlich eine historische Wolfsfalle befindet, geht’s lang und steil den Buchenwald hinunter nach Fornero im Val Strona. Nun bin ich also hier, streng genommen nicht mehr wirklich im Ossola, in einem sehr unbekannten und, wie sich zeigen soll, auch dem ärmsten der durchwanderten Täler. Markierungen und Wegweiser sind nach wie vor eher dünn gesät, und nach einem längeren, unnötigen Umweg werfe ich, wenn ich mir nicht sicher bin oder der Wegverlauf nicht klar ist, von nun an konsequent einen Blick in die Karte.  Nicht nur sind zahlreiche nützliche Features, wie zum Beispiel ÖV-Haltestellen, Rifugi, Bivacchi, Museen und vieles mehr, verzeichnet, auch die signalisierten Wanderwege sind nach Schwierigkeitsgrad sowie mit der in Italien üblichen alphanumerischen Bezeichnung eingetragen.
Fornero ist keine wohlhabende Ortschaft, aber auch nicht arm, und sie lebt. Nach Fornero di Piana, wo sich ein Pinocchio-Museum befindet – im waldreichen Val Strona hat die Holzverarbeitung eine lange Tradition – geht’s steil, heiss und sonnig den Südhang hinauf nach Massiola. Hunderte, wenn nicht Tausende von Mauereidechsen huschen davon, Grillen und Grashüpfer zirpen. Die Menge und Vielfalt der Heuschrecken ist beeindruckend, ebenso die Anzahl der Kreuz- und anderer Radnetzspinnen. Dazu Mantis, verschiedene Libellen, Kaisermantel, Mohrenfalter, Bärenspinner, sowohl Raupen als auch Falter, um nur einige zu nennen. Hier gibt es sie noch, die Insekten, und zwar in ihrer ganzen, beeindruckenden Vielfalt.

Massiola klebt nicht nur am Hang wie ein Schwalbennest, es haben sich auch Hunderte von Mehl- und Felsenschwalben auf den Drähten, Leitungen und Bäumen versammelt. Zeit für die Ferien in Afrika.

Das schmucke Dorf zeigt eine Freiluftausstellung alter Fotografien, C’era una volta da noi, https://www.lastampa.it/verbano-cusio-ossola/2019/09/22/news/a-massiola-tra-le-case-vuote-il-passato-torna-a-vivere-nelle-foto-in-bianco-e-nero-1.37497254. Bilder aus dem Alltag, Schulkinder, Handwerker, Mulis, schwer bepackt oder vor Karren gespannt, die Frauen in ihren Trachten mit den charakteristischen, geflügelten, schweren, schwarzen Kopftüchern. Und alle tragen sie die typischen Stoffschuhe. Auch viele Gebäude wurden abgelichtet und die Bilder dann an den entsprechenden Bauten aufgehängt, was einen spannenden Vergleich zwischen gestern und heute ermöglicht.
Ein alter Mann möchte wissen, wohin es geht, woher ich komme, und auch hier immer die erstaunte Frage «Da sola?» Sie können es einfach nicht fassen, egal, wo es mich hin verschlägt. Jedenfalls ist er schwer beeindruckt und reicht mir zum Schluss unseres Schwatzes die Hand, trotz Corona, wie er mit einem schalkhaft-verschmitzten Lächeln bemerkt, und wünscht mir eine gute Reise. Tja, die führt dann noch ein ganzes Stück den Berg hinauf, fast 1000 Höhenmeter. Also Wasser tanken und los. Anfangs eine wunderschöne Mulattiera, dann die neue Forststrasse, das Übel grassiert auch hier, «Sfondato da CE per lo sviluppo rurale»… Hier sind die Verantwortlichen immerhin so nett, dass sie uns Wanderer fast perfekt auf dem alten Weg hinauf zur Alpe Pero führen. Zwar werden keine Tiere mehr da oben gesömmert, dafür begegne ich einer Gruppe Jugendlicher, schwere Taschen, Rucksäcke und sogar eine Gitarre schleppend, welche das Wochenende auf der Alp verbringt. Auch der obligate Hund darf nicht fehlen. Jeder und jede scheint immer einen Hund zu haben, vom urbanen Schosshündchen bis zum veritablen Hütehund. Alle grüssen freundlich, es wird nicht starr an einem vorbeigeschaut, so wie es hierzulande in den letzten Jahren leider üblich geworden ist. Das ist Balsam für die Seele und einer der vielen Gründe, wieso ich mich auf meinen Touren ennet der Grenze so wohl fühle. Nach der Alp spielt der bis anhin so gut markierte Weg erfolgreich Verstecken, aber die Karte hilft. Der Gipfel des Piano del Pozzo, wo ich eigentlich biwakieren wollte, hüllt sich in dichte Nebelschwaden, aber kurz davor findet sich am steilen Hang unter einer ausladenden, stämmigem Bergbuche ein grasbewachsenes, ebenes Holzerplätzchen, just perfect. Noch heute Morgen habe ich, nicht zum ersten Mal, gedacht, dass sich so eines wunderbar zum übernachten eignen würde, et voilà. Zelt aufstellen im weichen Gras, Katzenwäsche und dann natürlich, weglos, doch noch auf den Gipfel. Ab und an eine Nebellücke, man kann etwas sehen, bekommt einen Eindruck vom steilen, waldbepelzten Gelände, welches mich so sehr ans Valle Onsernone erinnert. Irgendwo ruft ein Schwarzspecht, jedes Revier scheint hier besetzt zu sein.

Gegen das Eindunkeln hin lichtet sich der Nebel, Abendessen an der Sonne, ein Turmfalke streicht den steilen, felsigen Graten entlang. Goldenes Licht, alles leuchtet sanft, Eulen und Käuzchen beginnen zu rufen, die ganze Nacht über raschelt und tönt es rund um mich herum. Später geht der Mond auf. Was für ein Geschenk.

Samstag, 5. September 2020, Piano del Pozzo – Massiola – Stra Veggia – Forno – Campello Monti – Alpe Scarpia

Wieder steht ein langer Tag bevor. Gut ausgeruht, small wonder bei diesen langen Nächten, und mit guten Beinen mache ich mich nach dem Z’morgen auf den Weg hinunter in’s Tal. Der wunderschöne Morgen erhält noch einen zusätzlichen Zauber, quasi das Tüpfelchen auf’s I, durch eine wohl an die hundert Tiere zählende Gruppe von Alpenseglern. Ihre hellen Rufe, so ganz und gar unähnlich denjenigen ihrer kleineren Brüder, der Mauersegler, begleitet mich bis hinunter zur Alpe Pero. Auch sie sind, wie die Schwalben gestern in Massiola, auf dem Weg nach Afrika. Dieses Mal werde ich auf einer anderen Wegvariante talwärts geleitet. Die auf der Karte verzeichnete, unmarkierte, schwierige Route hinunter nach Forno habe ich in Anbetracht des steilen Geländes und der absenten Wegweiser rasch verworfen.
Zwei Pilzsucher wollen wissen, ob ich welche gefunden hätte, erzählen, dass sie ihr Sohn auf der bestossenen Nachbarsalp zum Mittagessen eingeladen habe, erzählen auch vom Wolf, den sie diesen Frühling gesehen haben und der zuhinterst im Tal immer wieder Schafe reisse. Ja, das sei halt so eine ambivalente Sache mit dem Wolf, aber man arrangiere sich eben, irgendwie, jeder auf seine Art und ohne die ennet der Grenze üblichen, manchmal so heftig hochgehenden Emotionen.

Die Stra Veggia, die historische Mulattiera des Val Strona, ist sehr angenehm zu gehen, oft gut bis sehr gut erhalten, worauf man entsprechend stolz ist und dies mit zahlreichen Infotafeln auch kundtut. Die ersten Smaragdeidechsen, scheu wie immer, eine grosse, dicke Äskulapnatter macht sich geräuschvoll davon, reife Brombeeren, es ist auch heute heiss und durstig. Je weiter man ins Tal hinein kommt, desto ärmer und auch verlassener werden die Dörfer. In einem aufgegebenen Weiler finde ich ein paar reife Pflümli. Wie immer ist frisches Grünzeug etwas vom Wenigen, was mir auf solchen Touren fehlt. In Pian Pennino sitzt eine Frau vor dem Haus und strickt. Zwei Jäger begutachten eine erlegte Gemse. Nun weiss ich auch, was der Schuss, den ich vor ein paar Stunden hörte, verursacht hat.

Umso erstaunter dann bin ich über Campello Monti. Die ehemalige Walsersiedlung ist heute nur noch im Sommer bewohnt. Die bunten Häuser wirken fast herrschaftlich. Eine breit angelegte  Steintreppe führt hinauf zur Kirche. Einen gewissen Wohlstand bringt wohl die gta, welche durch das Dorf durchführt und vielen Wanderern als Posto Tappa dient. Da ich mit meinem Zelt unabhängig bin, fülle ich lediglich meine Wasserflasche auf und steige dann bergwärts Richtung Bocchetta Rimella. Bevor die Campelloni im 16. Jahrhundert einen eigenen, geweihten Gottesacker bekamen, trugen sie ihre Toten jeweils über den Pass hinüber nach Rimella, um sie dort zu beerdigen. Heutzutage ist dies nur noch schwer vorstellbar.

Die Alpe Scarpia ist mit Ziegen, Schafen, Rindern und Eseln bestossen, und ich muss ein Weilchen suchen, bis ich ein vermeintlich ruhiges, nicht einsehbares, ebenes Plätzchen finde. Da die Wolken immer dichter werden, stelle ich nach einem wohltuenden Bad im Bergbach das Zelt auf. Neugierig wie immer, frau hofft ja wiederzukommen, erkunde ich die Gegend, finde einen alten Weg zur Alpe Penninetto und sogar ein paar Schalensteine! Also haben auch schon Menschen vor unserer Zeitrechnung dieses Plätzchen geschätzt. Weiter oben macht sich der Hirte mit seinen Ziegen und Schafen, unterstützt von seinen beiden Hütehunden, langsam an den Abstieg zu den Alpgebäuden, wo die Tiere die Nacht eingezäunt verbringen. Es ist so, man arrangiert sich mit dem Wolf, die Tiere sind behirtet, den ganzen Tag. Geht doch, oder, liebe Bündner, Walliser undundund! Später, es ist schon am eindunklen und es nieselt, kommt noch der Hütebub mit allen Eseln und Rindern. Ungerührt stapfen sie an meinem Zelt vorbei. Solche fast schon archaisch anmutende Szenen sind hier noch respektive wieder gelebter Alltag. Langsam werden die Glocken der Tiere leiser, dann ist es ganz still. In der Nacht klart es auf, Sterne kommen zum Vorschein.

Sonntag, 6. September 2020, Alpe Scarpia -Bocchetta di Campello – Rimella – Bivacco Alpe Helo

Wie jeden Morgen das taufeuchte Zelt abreiben, zmörgele, packen, Höhenmesser checken. Mein portabler Barometer ist eine recht zuverlässige Hilfe bei der Einschätzung der eher labilen Wetterlage. Zudem schickt mir meine Homebase, sprich Jean, jeden Tag ein SMS mit dem aktuellen Wetterbericht, was natürlich nicht nur sehr angenehm ist, sondern auch sehr geschätzt wird. In der Morgenkühle Aufstieg zum Pass, ein schöner Sonntagmorgen, der weite Blick in’s steile, sich in unendlich viele Seitentäler verzweigende Val Sesia tut sich auf. Mein nächstes Betätigungsfeld?!

Auf den herbstgelben Matten verstreut sind die meist steingedeckten Alpgebäude, auch dies ein Zeichen von mehr Wohlstand als im Val Strona, wo mit denjenigen Materialien repariert wird, die man eben zur Hand hat und die günstig erhältlich sind. Aber auch hier wird die Arbeitskraft von Equiden noch genutzt.

Ein angenehm zu gehender Weg führt oberhalb des Dörfchens San Gottardo mit seinem steingedeckten Dächermeer ins Walserdorf Rimella.

Da heute Sonntag ist, sind zahlreiche Wanderer unterwegs, einzeln, zu zweit oder in grossen Gruppen, geübte und weniger geübte, einige ganz offensichtlich leidend unter ihren gewichtigen, körpereigenen Rucksäcken. Aber alle sind sie nett, grüssen mit einem freundlichen Buongiorno oder Salve und wollen oft wissen, wohin es denn gehen soll. So erzählt man nicht nur etwas von sich, sondern erfährt auch manch spannendes und interessantes Detail.
Rimella ist ein sehr schönes Dorf, die drei Frazioni schmiegen sich an die steilen Hänge. Vielerorts ist die holzdominierte Walserarchitektur sehr prominent, die Häuser meist steingedeckt. Da für heute Abend teils heftige Gewitter angesagt sind, schaue ich mich nach einer Unterkunft um. Und auch hier erweisen sich, genau wie in Griechenland, die alten Männer auf der Piazza als das beste Ufficio Turismo. Einer nimmt mich sogleich fürsorglich unter seine Fittiche, zeigt mir den Weg zum Albergo Fontana und erläutert mir auch gleich noch, für alle Fälle, man weiss ja nie, die Gepflogenheiten des Bivacco Alpe Helo. Gut so, denn leider ist das Albergo schon voll, und sie sind erleichtert dort, dass ich weitetziehe zum Bivacco und erklären mir nochmals minutiös den Weg dorthin. Ich hab’s also immerhin probiert, das mit dem Albergo und einem ausgedehnten, piemontesischen Nachtessen. Aber, ganz ehrlich, eine Nacht in den Bergen, ganz alleine, zieht mich halt schon viel mehr.
Die Wolken werden immer dicker, immer höher, immer schwärzer, bin gespannt, ob es hält…. Bis Sant Antonio noch die Straße, alles ist italienisch und Walsertitsch angeschrieben, vor ein paar Jahrzehnten noch undenkbar und auch verboten, dann ein schmaler, steiler, gut markierter Pfad ins enge Tal hinein.

Hier haben die Wildschweine gewütet, praktisch jede grasige Stelle haben sie umgewühlt, manchmal so richtig übel. Hier hätten die jagdaffinen Italiener ein weites Betätigungsfeld. Es geht erneut steil bergan, immer wieder ein paar Tropfen, wildes Gelände, der Bach rauscht, langsam lichtet sich der Wald, Alpenrosen und steinige Weiden lösen ihn ab. Auf der Alpe del Rio ist niemand, auch keine Tiere, und das Bivacco habe ich ganz für mich alleine 😊 Zum Wasser muss frau noch ein bisschen hochklettern, es ist auch nicht viel, aber zum Waschen reicht es vollauf. Ein kalter Wind kommt auf, und das bescheidene Bivacco bietet willkommenen Schutz. Natürlich muss ich abends noch hinauf auf die Bocchetta und ins Valle Anzasca schauen. In den ausgedehnten Alpenrosenbeständen ist immer wieder das plätschernde, rollende Gurren der Birkhühner zu hören. Gallo forcello wird es hier treffend genannt. Ab und zu eine Gemse, sogar ein Geier, wohl ein Gänsegeier, lässt sich kurz blicken, bevor er eher unmajestätisch davonflappt. Dies ist einer dieser entlegenen Orte, wo man sogar zum Spatengang das Fernglas mitnimmt. Dafür spricht auch, dass das Bivacco offen ist.

Eigentlich müsste es, Corona sei Dank, geschlossen sein. Schön, dass es auch noch anders geht und sich der gesunde Menschenverstand noch nicht komplett aus dem Staub gemacht hat. Ich jedenfalls bin froh, die Nacht ist windig, manchmal grollt der Donner, es wetterleuchtet. Irgendwelche Bilche haben sich hier ebenfalls wohnlich eingerichtet, und die ganze Nacht ist das Getrappel ihrer Füsschen zu hören. Da ich mein Bett auf den frisch gefegten Boden, ja, ich habe gehaushaltet, vor der offenen Tür verlegt habe, bläst mir der Wind immer mal wieder den Regen ins Gesicht. Aber so habe ich Luft und Licht, das alte Gebäude hat nur ein winziges Fensterchen.

Montag, 7. September 2020, Alpe Helo – Colle Dorchetta – Bannio – Pontegrande – Barzona – Alpe Piana

Der Morgen ist recht frisch, und ich laufe nicht gleich in kurzen Hosen los. Aber schon bald wird mir zu warm. Was auf dieser Seite die Wildschweine angerichtet haben, sind nach der Bocchetta die Kühe, so viel Erosion, dazu Erlengestrüpp und Nässe, nicht meine bevorzugte Kombination. Immerhin ist die Markierung tadellos. Der Abstieg nach Bannio ist lang und im mittleren Stück im Buchenwald sehr steil, aber der Weg gut. Erneut Pilzsucher, top ausgerüstet, auch sie können nicht verstehen, dass es trotz perfekt scheinenden Bedingungen keine Pilze, sprich funghi porcini, gibt. Aber es hat ja auch keine Fichten…
Ich gebe ziemlich Gas und schaffe es gerade noch nach Bannio, bevor um halb eins das Lädeli schliesst. Es gibt endlich wieder mal frische Früchte, dazu einen Pannino und ein Stück delikaten Formagella aus dem Val Sesia. Für diesen feinen Z’mittag hat sich die Extra-Anstrengung gelohnt. Apropos Essen: Vor meiner Tour wollte Jean, wie immer, wissen, wohin es genau geht, was für Kartenmaterial ich dabei habe und so weiter. Auf meine Antwort hin, dass die piemontesische Sektion des CAI ….. weiter kam ich nicht. «Was, du gehst in’s Piemont, in’s Land von Barolo und Brasato, Formaggi und Salumi, und du ernährst dich von Knäckebrot und Trockenfrüchten?» Wie der geneigte Leser, die geneigte Leserin dem Text entnehmen mag, so desolat ist die Lage nicht.

Auf dem grossen Dorfplatz stehen gleich drei Kirchen, eine grösser als die andere. Die Anzahl an sakralen Bauten ist eh beeindruckend, von der kleinen Edicola am Wegrand über das Oratorio und die Capella bis zur grossen Dorfkirche. Jeder Weiler und auch fast jede Alp haben zumindest ein Bildstöcklein.
Pontegrande ist im Vergleich zu Bannio fast schon düster, ärmlich, es wirkt wie ausgestorben, die gefühlte Hälfte der Häuser steht zum Verkauf. Der Fluss kommt nicht blau und klar, sondern hellblau-trüb daher.

Auf der Strada Vecchia, wunderbar erhalten, geht’s hinauf ins Bijou-Dörfchen Barzona. Ziel heute, Croce del Cavallo, 1300 Höhenmeter, und es ist nicht wirklich kühl und schon früher Nachmittag. Keine Lust auf Strasse, nein, wirklich nicht. Also versuche ich es mit der auf der Karte verzeichneten Abkürzung, was im Val Strona funktioniert, sollte hier eigentlich auch möglich sein. Anfangs klappt das ganz gut, der Einstieg findet sich rasch, ein, zwei verblasst Markierungen und logischer Wegverlauf, dann Felsen, welche mittels kunstvollen, spärlich-perfekten, unter tiefen Buchenlaubschichten verborgenen Kunstbauten erklommen werden. Dann aber Ende Granit, trail finding skills sind gefragt, nicht ganz einfach in diesem steilen Terrain. Dann endlich wieder das Alpsträsschen, das vermeintlich letzte Bildstöcklein vor Asphaltende, aber nein, hier steht ein Bagger, Forststrasse bis zur Alpe Bobbio. Wie ich sie doch liebe, diese Wunden im Waldpelz, knurr. Im Gegensatz zu Massiola wurde hier der alte Weg oft zerstört, keine Freude mag aufkommen. Zum Glück endet die Plage auf der schönen Alpe Bobbio, welche bestossen ist. Ein letztes steiles Stück im Buchenwald, und auf der malerischen Alpe Piana bin ich dann alleine, sogar einen Brunnen hat es.

Die Sonne steht schon tief, der Croce del Cavallo ist noch mindestens eineinhalb Wegstunden entfernt. Es ist so schön auf diesem Balkönchen über dem Valle Anzasca, dass ich hier mein Nachtlager aufschlage. Zusammen mit den letzten wärmenden Sonnrenstrahlen trocknet das Zelt und es gibt, unter dem gütigen Blick der Madonna im Bildstöcklein, eine wohltuende Brunnendusche. Es ist wunderschön hier, ein Käuzchen beginnt zu rufen. Die Nacht allerdings entbehrt der so geliebten Stille, die beglockte Kuhherde von der Alpe Bobbio kommt mich besuchen. Was, ein Zelt hier, das geht gar nicht. Nach ein paar Stunden erkenne ich jedes Tier an seiner Glocke, und diejenige des Munis, welcher besonders anhänglich, um nicht zu sagen aufdringlich ist, scheppert so blechern, dass es den Ohren nicht mehr wohltut. Eigentlich mag ich Tiere mit Glocken sehr, diese jedoch übersteigen das Mass des Erträglichen…. Aber es ist eine sternenklare Nacht, was mich wieder entschädigt.

Dienstag, 8. September 2020, Alpe Piana – Passo Salarioli – Croce del Cavallo – Colma – Schiarenco

Bezaubernde Morgenstimmung mir Blick Richtung Lamé, Passo Mottone, Val Baranca, ein neuer, grosser Playground tut sich auf.

Ich geniesse den Morgenanstieg durch den Bergwald, ein einzelner Steinpilz unter en paar Fichten, zum Pass, von wo der Blick steil hinunter in’s tief eingeschnittene Valle Antrona geht. Ein Steinadlerpärchen lässt sich von der Thermik ohne einen einzigen Flügelschlag in weiten Kreisen in die Höhe tragen. Wofür wir Erdenwesen Stunden benötigen, das bewältigen die majestätischen Greife in ein paar wenigen Minuten. Immer wieder ein unvergessliches Schauspiel. 
Wild, einsam, die meisten Alpen auf der Schattenseite schon lange aufgegeben, die Wege verfallen, heute ein Teil des Parco Naturale Alto Valle Antrona, so mein erster Eindruck des Valle Antrona. Der Schlussanstieg zum Croce del Cavallo, welcher von unten so sanft aussieht, ist steil, fast weglos, aber perfekt durchmarkiert. Gleich am Abgrund passiere ich eine Stelle mit flachgelegenem, gelbem Gras, wo wohl ein Muttettier und sein Junges die Nacht verbracht haben. Die Aussicht auf dem Gipfel, obwohl nur 1900 m ü. M. gelegen, ist recht spektakulär, bis in’s Val Grande, in’s Tessin, die markant-ebenmässige Pyramide der Ruggia ragt in der Ferne auf, der lange, breite Grat bis zum Pizzo Castello. An einem Punkt, wo die Sicht in’s Tal besonders offen ist, mache ich Rast, um mit dem Fernglas einen geeigneten Platz für die Nacht auszuspektiven. Es ist zu weit, um noch den Aufstieg ins Val Troncone zu schaffen, und ich werde, was ich nicht gerne mache, im Talboden übernachten müssen. Da, eine Wiese am Fluss, die Karte bestätigt es, kein Haus, kein Weg dorthin, sollte, nein muss, war ja sicher bewirtschaftet, dennoch zugänglich sein, eine Hängebrücke über den Torrente Ovesca, das müsste gehen. Aber zuerst noch ein bisschen Gratwanderung geniessen, weite Blicke.

Auf Colma warnt ein Schild, dass einer der beiden Wege hinunter ins Tal wegen Windwurf nicht begangen werden kann, der freundliche Hüttenwart des Rifugio bestätigt aber, dass die steilere Variante okay ist. Auch dort liegen viele umgestürzte Bäume, welche aber perfekt, wohl von besagtem Custode, solcherart frei gesägt wurden, dass man auch mit grossem Rucksack aufrecht unten durch gehen kann. Grazie mille 😊 Da habe ich schon ganz anderes erlebt, am übelsten einmal im Val Cannobino, wo ich fast alle 100 Meter den Rucksack ablegen und unter umgestürzten Baumriesen durchkriechen oder sie mühsam umgehen musste. Wenn es so abschüssig ist wie hier, kann das rasch recht gefährlich werden. Der Pfad, Teil der gta, ist trotz des steilen Geländes sehr komfortabel angelegt und angenehm zu gehen. Eine winzige, dank der typischen, ringelnatterähnlichen Kopfzeichnung der Jungtiere leicht zu identifizierende Äskulspnatter beäugt mich aufmerksam und schlängelt sich dann durch die ihr wohl gigantisch erscheinenden Tannennadeln davon. Wespen haben in der weichen Walderde ein grosses Nest angelegt, ein mir unbekannter Specht ruft, etwas zwischen Schwarz- und Grünspecht. Zu Hause finde ich dann heraus, dass es sich um den Grauspecht handelt. Wieder etwas Neues gelernt.
Nach der Alpe Prei mit ihren in’s Erdreich eingelassenen Cascine taucht der Weg definitiv in den Wald ein, anfangs Fichten, dann Buchen, zum Schluss Ahorne und Edelkastanien.

Der Torrente Ovesca im Tal unten ist recht schmal, wohl auch deshalb, weil sich oben in den Bergen zahlreiche Stauseen zur Stromerzeugung und für’s Trinkwasser befinden. Auf dem alten Talweg, der Via Antronesca, geht’s, über ein morsches Holzbrücklein und vorbei am Monastero di San Michele Arcangelo, mit Brunnen zum auffüllen der Wasservorräte, und danach auf sehr wenig begangenem Pfad, taleinwärts. Anfangs leiten mich noch weisse, in die Haseln geknüpfte Stoffbänder, dann ist’s plötzlich fertig, umgestürzte Bäume blockieren den Weg auf dem alten Damm, dem ich gefolgt bin. Also umkehren, ah, da rechts geht’s sacksteil nach oben. Ein plötzliches Rascheln lässt mich innehalten. Ein Dachs, die schwarz-weiss gestreifte Nase knapp über dem Boden, exakt auf meine Spur zusteuernd, nimmt er meinen Geruch wahr, und, ohne aufzuschauen, macht er rechtsumkehrt und düst davon. Ich muss schmunzeln. Ich habe gar nicht gewusst, dass Dachse so flink sein können! Keine fünf Minuten später eine jagende Äskulapnatter, fast trete ich auf sie drauf, ziehe mich vorsichtig zurück, um sie nicht zu stören, sie bemerkt mich nicht einmal! Dies scheint wahrlich nicht ein besonders stark frequentierter Ort zu sein.
Endlich die auf der Karte verzeichnete Capella, der Bach lässt sich leicht auf Trittsteinen überqueren und später am Abend dient er als willkommene Badewanne.

Ein Schild warnt «Attenzione Toro Stier Bull «, aber das gefährliche Tier weilt längst in den ewigen Weidegründen, und ich bin ganz alleine auf der riesigen, mit alten Steinmäuerchen, Baumhecken und schönen Einzelbäumen bestückten Wiese, perfekt. Nach der vergangenen Nacht geniesse ich die Ruhe hier gleich doppelt.

Mittwoch, 9. September 2020, Schiarenco – Antronapiana – Val Troncone / Alpe Lombraoro di Sotto

Unter der grossen Esche ist mein Zelt fast trocken geblieben. Morgenroutine, es geht unterdessen ziemlich tifig. Die noch weitgehend gut erhaltene Via Antronesca führt angenehm schattig durch lichte Kastanienselven und hübsche Weiler nach Antronapiana. Ein schön angelegter Kreuzweg unter Lärchen rahmt den südlichen Dorfeingang ein, sanftes Morgenlicht.

Auf frisch instand gesetztem Weg wandert es sich angenehm weiter durch duftenden Wald zum Lago Antrona, welcher 1642 durch einen Bergsturz entstand. Ein paar Restaurants, italienische und ganz wenige ausländische Feriengäste geniessen hier oben den schönen Tag. Man erlebt unterhaltsame Szenen auf dem Spazierweg rund um den See, wie zum Beispiel diejenige mit der italienischen Grossfamilie, wo sich die gut gealpte Mama in ihren schlecht sitzenden Schlarpen und der quengelnde Filius vom Papa mit dem Hündchen geduldig erklären lassen, dass man hier nun in Gottes Namen nicht mit dem Auto um den See fahren könne. Oder das junge Pärchen, welches direkt aus einem Instagram Post gehüpft zu sein scheint. Beim Lago Campliccioli, wo die Turbinen zur Stromerzeugung dröhnen, lässt der human traffic dann nach.

Im Val Troncone kann man so richtig die Seele baumeln lassen, türkisfarbene Pools, uralte Lärchen, weicher Boden, es duftet und fühlt sich fast an wie in der A-B 😊 Einfach nur wunderschön. Ab und zu Wanderer, aber erträglich. Mit einem älteren Paar komme ich in’s Gespräch, er spricht, da er fast 40 Jahre bei der Lonza gearbeitet hat, fliessend Deutsch. Da seine Frau aber nur Italienisch spricht, wechseln wir wieder in das hiesige Idiom. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, und auch sie bestätigen mir, dass eigentlich alle Bivacchi geschlossen sind. Im Val Grande seien eben wieder zwei Wanderer erwischt worden, die das Schloss zu einer Unterkunft aufgebrochen hatten. Als ich bemerke, das seien bestimmt Svizzeri oder Tedeschi gewesen, meint er mit süffisant-schadenfrohem Grinsen, nein, nein, Milanesi hätten sich so daneben benommen. Anscheinend folgen die Carabinieri tatsächlich allen verdächtig aussehenden Turisti, um sie dann aus dem Nationalpark zu eskortieren. Selbstverständlich wird dann auch noch eine nette Busse verhängt. Zum Glück bin ich unabhängig, biwakieren im Zelt für eine Nacht wird stillschweigend toleriert. Selbstverständlich hält man sich an den Codex des zero impact camping, sprich, keinen Abfall liegen lassen (eigentlich logisch , oder….), kein Feuer machen, mindestens 100 m von Gewässern entfernt nächtigen, Wasser nicht mit Seife oder ähnlichem verschmutzen, gebrauchtes Toilettenpapier  mitnehemn, die eigenen, menschlichen Hinterlassenschaften mindestens 20 cm tief vergraben. So zeugt am nächsten Morgen nur etwas flachgelegenes Gras von meiner nächtlichen Anwesenheit.

Ich tue das auch heute, im Talabschluss finde ich ein heimeliges Plätzchen, mit Gumpen im klaren Bach. So ein Bad tut jeweils unglaublich gut, erst recht nach einem langen heissen Tag in Wanderschuhen und verschwitzten Kleidern. Weiter oben am Hang beobachtet mich ein Reh und beschliesst nach einem Weilchen, dass ich wohl keine Gefahr darstelle, leckt sich das Fell und lässte sich dann im hohen Gras unter den Lärchen zu einem Nickerchen nieder. In der Nacht funkeln wieder die Sterne, keine Lichtverschmutzung trübt das Firmament, und auch der Mond geht nun wieder später auf. Die Stille ist fast hörbar, how precious!

Donnerstag, 10. September 2020, Val Troncone / Alpe Lambraogio di Sotto – Bacino Cingino – Passo di Saas / Antronapass – Börter

Vor der heutigen Etappe habe ich doch etwas Respekt, der Antronapass ist immerhin 2838 m hoch. Aufstehen, sobald das erste Perlgrau des Morgens die nächtliche Dunkelheit ablöst. Stetig und steil geht es bergan zum Bacino Cingino, überall Murmeltiere. Man spürt den Parco Naturale Alta Valle Antrona, es darf nicht gejagt werden, und die Tiere sind nicht scheu.

Leider zeigen sich die berühmten Cingino-Steinböcke, welche an der Staumauer die austretenden Mineralsalze lecken, heute nicht. Aber der tief königsblaue See ist für einen Stausee ein wahres Bijou.

Noch mehr staune ich über die Via Antronesca, welche bis zur Passhöhe teilweise und vor allem dort, wo man so richtig froh ist darum, in ihrer ganzen grosszügigen Breite von über 2 m erhalten ist. Hier konnten zwei vollbepackte Maultiere problemlos kreuzen. Ich kann nur den Hut ziehen vor dieser strassenbaulichen Leistung. Der Pass wird seit der Römerzeit genutzt, transportiert wurden dereinst Güter wie Salz, Wein oder Käse, seit 1791 ist die Mulattiera gepflastert. Die letzten 200 Höhenmeter nach der Alpe Corone mit ihren schönen, von Wollgras gesäumten Tümpeln sieht man vor sich nur eine senkrechte Wand, welche aber, geschickt jedes Felsband und jede Geländefalte nutzend, überwunden wird. Trotzdem bin ich dem Nebel für seine Anwesenheit dankbar, so muss ich nicht in die Tiefe schauen. Die absolute Schwindelfreiheit gehört ja bekanntlich nicht zu meinen Talenten. Auf der Passhöhe, wo noch Reste der Salzsuste zu sehen sind, bläst ein giftig-kalter Wind, und ich ziehe erst mal etwas an. Kurze Hosen genügen nicht mehr. Das Gelände auf der Walliser Seit zeigt einen komplett anderen Charakter. Ein langes, klassisches U-Tal, flache, riesige Felsplatten, ein paar Schneefelder, nur noch Steine, Geröll, und ganz viele sterbende Gletscher. Eine fast schon unschweizerische Weite! Ich entscheide mich für den Höhenweg nach Heidbodme, was sich im Nachhinein als wegtechnisch eher unklug herausstellt. Anfangs ist der Pfad narrensicher durchmarkiert und auch gut instand gesetzt.
Plötzlich fliegt ein paar Meter vor mir ein Schneehuhn auf, dann noch drei weitere, alle bereits in der Mauser, sehr schön kann man ihre gefiederten Füsse erkennen. Vor lauter Panorama bewundern habe ich sie schlichtweg nicht gesehen, und sie wiederum haben sich bis zum letzten Moment auf ihre ausgezeichnete Tarnung verlassen.
Der Weg verbleibt mehr oder weniger auf der gleichen Höhe, langsam wird es Zeit, ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Aber die Grasbalkönchen sind und bleiben inexistent, und dann kommt zu allem Überdruss noch eine Via Ferrata, zu deren Zustieg der Weg teilweise abgerutscht ist . Da heisst es aufpassen, jeder Tritt muss stimmen. Mit dem grossen Rucksack befindet sich der Schwerpunkt viel weiter oben, und da muss man schon gut Obacht geben.

Dann endlich das heiss ersehnte Grasbalkönchen, zwei Quadratmeter ebenes Bödeli auf 2740 m, das einzige bis Heidbodme. Und dort fängt das Skigebiet an, diese Hässlichkeit muss ich mir nicht antun. Hier habe ich ein Bächlein, welches Wasser führt, und eine absolut fantastische Sicht direkt auf die schnee- und gletscherbedeckten Walliser Viertausender, Rimpfisch-, Allalin- und Jazzihorn, Mischabel, Dom, Monte Rosa, die ganze illustre Gesellschaft. Ganz schön eindrücklich! Und beinahe permanent poltern und donnern die Steinschläge, die Gletscher schmelzen, der Permafrost taut, alles bewegt sich talwärts, und zwar in geologisch atemberaubenden Tempo. Allüberall tritt der Bergschrund zu Tage. Alle global warming-Leugner sollten eine Nacht hier oben verbringen! Nur schon das fast ununterbrochene Rumpeln und Krachen könnte einen das Fürchten lehren.

Freitag, 11. September 2020, Börter – Heidbodme – Saas Almagell – Visp – Freidorf

Nach einer eisigen, sternenklaren Nacht und einem unvergesslichen Sonnenaufgang mit Alpenglühen par excellence wandere ich erst einmal in langen Kleidern los. Immer öfter ist der Weg abgerutscht, und es heisst aufpassen. Und dann tatsächlich eine weitere Via Ferrata….. Das sind so die Herausforderungen, auf welche ich eigentlich ganz gut verzichten könnte. Als Belohnung gibts dann dafür anschliessend eine Herde Gemsen, Muttertiere mit ihren Kitzen. Und überall Munggen, so kurz vor dem Winterschlaf sind sie kugelrund und geniessen ganz offensichtlich die ersten wärmenden Strahlen der Morgensonne.
Ab Heidbodme hat mich dann die Zivilisation endgültig wieder. Hier wird übrigens der Weg zum Antronapass blau weiss ausgeschildert, danke für die Info, liebe Walliser. Euer Kanton ist mir nicht umsonst der liebste 😬  Sessellifte, Schneekanonen, Skipisten mit flachgedrückten jungen Lärchen und auch sonst wächst da nicht mehr viel. Ausser Heidelbeeren! Überall waren sie erfroren oder vertrocknet, und hier kann ich mich endlich so richtig gütlich tun. Huckleberry addicted! Die Mulattiera, welche auf der italienischen Seite so gut erhalten ist, ist hier praktisch ganz verschwunden. Saas Almagell mit seinen vielen hässlichen Hotels macht auch nicht Freude, und die vielen Wanderer grüssen kaum und schauen meist, gut schweizerisch, im Tunnelblick an einem vorbei. Aber nicht jammern, die ÖV-Anbindung ist super, jede halbe Stunde fährt ein Postauto nach Visp. Da die gefühlte Hälfte der Schulen sowie einige Vereine heute aus dem Herbstlager oder der Vereinsreise im Wallis heimzukehren scheinen, ist der Zug pumpenvoll, erst ab Frauenfeld leert er sich langsam. Irgendwie der anstrengendste Teil dieser Reise, und ich bin froh, als ich daheim ankomme und mich Jean, der mich am Bahnhof abholt, in seine starken Arme schliesst. Dankbar, glücklich und voller unvergesslicher Eindrücke lande ich ganz langsam wieder in Mostindien …. um dann am übernächsten Tag nochmals den Rucksack zu packen und in in vier Tagen von Vrin über die Greinaebene, welche ich unbedingt mal sehen wollte, welche man aber eigentlich, wenn man schon so viel Schönes gesehen hat, gar nicht unbedingt gesehen haben muss, nach Olivone zu wandern. Die wahre, völlig unerwartete Entdeckung waren dann die unvergleichlichen Wasserfälle und Gumpen des Brenno de la Greina, die Gana Negra und die phantastischen Trockenwiesen mit ihren zahlreichen Schirmpilzen, Schmetterlingen, Grashüpfern, Grillen und Gottesanbeterinnen oberhalb von Olivone.
Somit waren, was absoluten Seltenheitswert hat, die alpinen Wettergötter ganze zwei Wochen lang auf meiner Seite 😊

Comments

  1. Liebe Monika
    Was für ein wunderschöner Bericht! Und ich bewundere deinen Mut und dein Orientierungsvermögen sehr. Es wäre mir eine grosse Freude, dich im nächsten Jahr begleiten zu dürfen. Übrigens, ich kann im Fall problemlos einen Tag lang nicht reden… Herzliche Grüsse Sabine

    1. Liebe Sabine,
      Das freut mich, dass du im Geiste mitgewandert bist 🙂 So ein Unternehmen braucht eigentlich nicht viel Mut, nur ein wenig Ausdauer, und für die Orientierung gibt es die tollen Landkarten des CAI. Und wenn wir es tatsächlich schaffen würden, mal ein paar Stunden still zu sein – dazu braucht es ja bekanntlich zwei 😉 – dann können wir so etwas gerne mal gemeinsam machen, würde mich auch freuen!
      Herzlich, Monika

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