GR®510 – Le Sentier de 8 Vallées

Vorwort

Nach 46 Jahren im Berufsleben hänge ich – Monika – Mitte März die Erwerbsarbeit an den Nagel. Diese neu gewonnene und noch nie gehabte Freiheit ist ein unbeschreibliches Gefühl, welches erst einmal ankommen und einsinken muss. Und ich will doch sehr hoffen, dass ich mich sehr lange nicht daran gewöhnen werde!

Im Winter habe ich intensiv geplant. Es ist nicht ganz trivial, so früh im Jahr eine geeignete Tour zu finden. Zuerst stand Spanien im Fokus, aber die Landkartensituation in diesem Land ist, abgesehen von den Pyrenäen und ein paar anderen sehr beliebten Wanderregionen, eher desolat. Auch einige Regionen in Italien habe ich näher studiert und schlussendlich wieder fallen gelassen, da die Pässe sowohl in den piemontesischen Tälern, welche ich so sehr liebe, als auch in den Ligurischen Alpen zu hoch und damit noch schneebedeckt sind. Also Frankreich! Erstens sind die Franzosen passionierte Weitwanderer, egal ob per pedes oder mit dem Pferd, und zweitens produziert das IGN (Institut National de l’Information Géographique et Forestière) die meines Erachtens weltweit besten topographischen Karten. Das GR-Netz (Grand Routes) ist dicht und überaus vielfältig. Einige davon sind viel begangen, andere eher einsam, aber perfekt markiert sind sie alle.

Das aktuelle Bild hat keinen Alternativtext. Der Dateiname ist: DSC01798-scaled.jpg

Meine Wahl fällt auf den 250 km langen, 13’000 Höhenmeter umfassenden GR®510, den Sentier de 8 Vallées. Er startet in Breil-sur-Roya in den Alpes Maritimes, gleich an der italienischen Grenze, und endet in St.Cézaire-sur-Siagne in der Nähe der Parfumstadt Grasse. Viel mehr Informationen finde ich nicht. Also bestelle ich alle nötigen Landkarten und studiere die Route. Die französischen Préalpes sind sehr dünn besiedelt und Einkaufsmöglichkeiten entsprechend rar. Auch eine Übernachtungsmöglichkeit findet sich nicht in jedem Dorf. Da ich eh das Zelt dabeihabe, bin ich hier unabhängig, en autonomie, wie die Franzosen so treffend sagen. Ob ich den ganzen Weg an einem Stück gehen kann, wird sich weisen, halbwegs stabiles Wetter ist auf jeden Fall Voraussetzung.

Darüber hinaus sind in diesem Land die meisten Regionen mehr oder weniger gut mit dem ÖV erreichbar, für mich eine Grundvoraussetzung. Die Nähe zur Schweiz erlaubt eine flexible Planung, und wenn der Langzeitwetterbericht vielversprechend aussieht, kann man loslegen.

Ganz bewusst möchte ich nicht gleich an meinem ersten freien Tag in die Provence reisen. Ich will die Vorfreude auf diese Tour noch ein wenig auskosten, der Frühling darf ruhig noch ein bisschen fortschreiten, auch im Garten möchte ich ein paar Arbeiten bereits erledigt haben, an Mami’s Geburtstag am 5. April noch daheim sein und last, but not least, darf ich meine neue Pferdeliebe 2 Wochen lang hüten. Nachdem mein geliebter Nino letzten Mai im Alter von 33 Jahren über die Regenbogenbrücke gegangen ist, habe ich, unerwartet schnell und für mich auch sehr überraschend, letzten Herbst mein Herz an die Friby-Stute Ninja verschenkt. Tausend Dank, liebe Gudrun! Zusammen verbringen wir viele schöne Stunden auf längeren und kürzeren Ausritten und Spaziergängen, bevor es dann im April nach Südfrankreich geht.

Sonntag, 6. April 2025, Freidorf – St.Gallen – Zürich – Lugano – Milano Centrale – Torino Porta Nuova – Cúneo – Breil-sur-Roya

Der Rucksack ist gepackt, Essen für 1 Woche dabei, 15.5 kg schwer. Das genügt, mehr darf er nicht wiegen.
Der grosszügige SBB-Gutschein, den mir meine Arbeitsgspänli zum Abschied geschenkt haben, wird hiermit verreist.
Der erste Zug um 5.27 Uhr bringt mich nach St.Gallen, von dort weiter nach Zürich und Lugano, danach Milano Centrale. Ein gigantisches Menschengewusel, die ersten Mauersegler des Jahres. Mit der Freccia Rossa geht es durch die weite Po-Ebene in atemberaubendem Tempo nach Cúneo, im Blick die markante, alles überragende und noch schneebedeckte Pyramide des fast 4000 m hohen Monviso, an dessen Fuss der Po entspringt.
Der Zug kommt pünktlich in Cúneo an, und ich schaffe den eher knappen Anschluss auf die Tenda-Bahn. Der vollbesetzt Dieselzug ruckelt in gemütlichem Tempo durch zahllose Tunnels und atemberaubende Landschaften zweieinhalb Stunden durch die Seealpen. Als dann an den Bahnhöfen anstatt Fiat Renaults stehen, weiss ich, dass wir in Frankreich sind.

In Breil-sur-Roya steige ich nach 11 Stunden Reisezeit aus dem Zug. Geschafft! Ich bin froh, endlich die Beine vertreten zu können. Der Frühling begrüsst mich, Felsenschwalben jagen über der türkisfarbenen Roya nach Insekten.
Die Schlüsselbox für mein Nachtquartier, in einer engen Gasse mitten im alten Dorfkern gelegen, ist gut versteckt hinter einem «Schüfeli und Beseli». Das Zimmer mit kleiner Kochecke ist mit viel Liebe zum Detail und sehr geschmackvoll eingerichtet.

Da es noch ein paar Stunden hell ist, mache ich einen Spaziergang rund um’s Dorf, geniesse die frische Luft und die schöne Landschaft.

Montag, 7. April 2025; Breil-sur-Roya – Piène Haute – Sospel – Les Scardélans

In der Nacht hat es ein wenig geregnet, und die Strasse ist noch nass, als ich mich im Morgengrauen auf den Weg mache. Alles ist noch still im Dorf, aber die Vögel konzertieren bereits eifrig. Als erstes sind, wie immer in bewohntem Gebiet, die Rotschwänzchen erwacht.

Der rot-weiss markierte GR®510 beginnt gleich ausserhalb des Dorfes, ennet der Brücke über die Roya, auf einer wunderschönen, in den hellen Kalk gebauten Mulattiera. Ein zartviolettes, duftendes Thymianmeer umgibt mich, dazwischen leuchten pinkfarben die grossen Blüten der Zistrosen, blaue Veilchen und Leberblümchen, erste Ragwurzen. Wo immer möglich wurden die steilen Hänge terrassiert. Sofern einigermässen zugänglich, werden die darauf gepflanzten Olivenbäume nach wie vor gepflegt. Ganz wenige Bächlein, vor allem in den tiefen Taleinschnitten wie Viravourgio, führen etwas Wasser, ein Eindruck dessen, was mich auf dieser Tour erwarten wird. Dort gedeiht dichter Wald, viele Steineichen, etwas Buchs, kleine, wilde, mit einem weissen Blütenschleier geschmückte Birnbäumchen, Kiefern und viel Moos und schönen Flechten an den Stämmen. Sie sind dankbar für den feinen Sprühregen, der mich den ganzen Vormittag lang begleitet.
Im Weiler Mattegna begegne ich erstmals den eindrücklichen Pyrenäen-Hütehunden, den Patous. Obwohl sie klar durchgeben, dass sie hier das Szepter führen, sind sie weder bissig noch gefährlich, sofern man nicht die Dummheit begeht, zwischen sie und ihre Schützlinge zu geraten oder mit Steinen nach ihnen zu werfen.

In den grossen Gemüsegärten stehen Fave und Erbsen bereits meterhoch, und die Carciofi gedeihen in eindrücklicher Grösse in langen Reihen, bereit, ihre wunderschönen, violetten und natürlich auch sehr delikaten Blüten gen Himmel zu schieben. Piène Haute liegt, wie die meisten Dörfer hier, markant und eng verschachtelt die Häuser, auf einer Krete, Rundumsicht garantiert!

Durch schön gepflegt Olivenhaine führt der Weg bergab bis fast nach Olivetta auf der italienischen Seite, hinunter in’s Tal der Bévéra und damit, nach einem kurzen, von weissblühenden, nach Honig duftenden Erikabüschen geprägten Wegstück über Schieferhänge, zurück in den Kalk und damit botanisch wieder spannenderes Habitat.
Die ganze Region der Seealpen gehörte bis 1860 zu Italien bzw. zum Königreich Sardinien, einige grenznahe Dörfer wurden erst 1947 Frankreich zugeschlagen, daher auch die vielen italienischen Orts- und Familiennamen. Aber eigentlich befinde ich mich hier am östlichen Rand des okzitanischen Kulturraumes, wo moderne Staatsgrenzen eher ein Fremdkörper sind.

Wiederum auf der alten Mulattiera, gesäumt von eindrücklichen, teils noch sehr gut erhaltenen Terrassen, wandere ich über der Schlucht der noch jungen Bévéra Richtung Westen. Der Mittagsrastplatz bietet entsprechend viel Aussicht! Ab und zu ein abgelegener Bauernhof, Patous und ihre Herden, Bächlein mit Brunnenkresse, Mäuerchen, Hecken mit ihren gefiederten Bewohnern, lichter Wald, Kulturlandschaft vom Feinsten, Wasseramseln am Fluss.

Langsam nähere ich mich Sospel, bekannt für seine mittelalterlich geprägte Altstadt, die aus dem 11. Jahrhundert stammende Brücke über die Bévéra und die riesige, fast etwas fehl am Platz wirkende Kathedrale. Hier befindet sich für eine ganze Weile die letzte Einkaufsmöglichkeit, und ich decke mich mit Käse für die kommenden Tage ein. Ebenfalls fülle ich am Brunnen meine Wasservorräte auf. Auch hier jagen grosse, gemischte Schwalbentrupps über dem Fluss nach Insekten.

Der Nachmittag ist bereits weit fortgeschritten, Zeit also, sich nach einem Biwakplatz umzusehen. Etwa 500 Höhenmeter weiter oben lässt sich auf der Karte eine kleine, ebenere Fläche erkennen. Bis jetzt war das Gelände so steil, dass es kaum einen Schlafplatz gehabt hätte.
Anstatt des GR®510 nehme ich bis auf den Col St-Jean den normalen Wanderweg, gelb markiert, hier Gilet Jaune genannt. Die Balisage ist zwar nicht mehr so üppig wie auf dem GR, aber immer noch sehr gut. Über steile, blumige Halden und Terrassen und lichten Kiefernwald schraubt sich der Weg zum Pass hinauf. Nach einem kurzen Stückchen auf der Passstrasse weist die nun wieder rot-weisse Markierung in den dichten Kiefernwald, wo der Pfad steil bergan führt. Dann, auf der Krete, wird es etwas flacher, der Bewuchs lichter. Ich lehne meinen sich nun, nach 12 Stunden auf den Beinen langsam schwer anfühlenden Rucksack an einen Baumstamm und erkunde die Umgebung nach einem geeigneten Plätzchen. Ein paar halbwegs ebene Fleckchen finden sich, aber wirklich glücklich bin ich nicht. Ich übernachte nicht gerne im Wald, ich bevorzuge und brauche Weitsicht. Also noch ein bisschen höher – und hier der absolut perfekte Ort! Ein zerfallenes, ehemals stattliches Gebäude und wunderschöne, durch die Beweidung mit Schafen – ja, manchmal mag ich die einfältigen Tiere doch 😉 – raspelkurz gehaltenes Gras. Nun kann ich sogar noch wählen, wo ich nächtigen will, welch Luxus! Ein paar Dutzend Kalkbrocken zwecks bequemeren Liegens wegräumen und zu einem Lesesteinhäufchen aufschichten, Zelt aufstellen, Katzenwäsche und sofort die warmen Sachen anziehen, Menue 1 – Trockenfrüchte, Darvida, Käse, Schokolade, Nüsse – futtern und den magischen Übergang vom Tag in die Nacht geniessen. Ein Keiler spaziert seelenruhig ein paar Meter neben meinem Zelt vorbei, ein Stück weiter weg tut ein Hirsch dasselbe, und der Schwarzspecht ruft seinen flötend-melancholischen Ruf, bevor ein Käuzchen die Nachtschicht übernimmt. Einzelne scheue Sterne blinzeln hinter den Wolken hervor.

Dienstag, 8. April 2025; Les Scardélans – Col de Braus – Lucéram – Col St-Roch – Col de la Porte – Bonvilars

Heute früh, fern jeder menschlichen Besiedelung, eröffnet das Rotkehlchen das Morgenkonzert, gefolgt von Zaunkönig und Mönchs- und Weissbartgrasmücke und, wenig später, dem Kuckuck. Wie ich mich auf diesen Vogel, der während der ganzen Tour mein treuer Begleiter sein wird, gefreut habe. Als wir vor über 30 Jahren nach Freidorf zogen, riefen in Hörweite unseres Hauses 3 Kuckucke, einige Jahre später waren es noch 2 und wieder ein paar Jahre später noch einer. Seit etwa 8 Jahren hören wir keinen mehr, und seit etwa 5 Jahren hat er auch den Tannenberg und die Sitter verlassen ☹ Hier hingegen gibt es, neben den Singvögeln, welche sein Junges unfreiwillig grossziehen, auf dem nicht bis in die hinterste Ecke aufgeräumten und mehr oder weniger extensiv bewirtschafteten Land auch noch grosse Flächen mit Brennnesseln, Nahrungspflanzen von etwa einem halben Dutzend Arten behaarter Schmetterlingsraupen, welche seine Hauptnahrung ausmachen. Und wenn wieder einmal Tausende und Abertausende von dicht bepelzten Kiefernprozessionsspinnerraupen in langen Kolonnen das Land heimsuchen, ist das für den Kuckuck das Schlaraffenland schlechthin.
Während ich die Kreuznaht meiner Hose, welche gestern gerissen ist, flicke, spaziert wieder Herr Wildschwein vorbei. Allererste Sonnenstrahlen trocknen den wenigen Tau auf dem Zelt, während ich mein Müesli verspeise. Danach zusammenpacken und auf zu neuen Abenteuern.

Durch wunderschönen, lichten Wald mit vielen Birken und Meerkiefern, Pinus pinaster, wandere ich bergan zur Baisse du Pape und auf der Krete zum Col de Braus. Überall liegen die handtellergrossen Pinienzapfen, die borkige, in rost- bis weinroten Platten aufgesprungene Rinde der stattlichen Bäume leuchtet in der Morgensonne, und es riecht himmlisch nach warmem Harz. Genau diese Glücksmomente sind es, die das Weitwandern so unvergleichlich machen.

Ein Eichhörnchen turnt durchs Geäst. Erstmals wagen sich auch die Mauereidechsen und die Schmetterlinge hervor – Waldbrettspiel, Aurorafalter, Mauerfuchs, Bläulinge, Scheckenfalter, Zitronenfalter und die ersten Schwalbenschwänze. Auf der Passstrasse über den Col de Braus findet eine Autorallye statt, und die freundlichen Helfer bieten mir sogar etwas zu trinken an 😊 Aber schon bald ist der Spuk wieder vorbei, und ich bin wieder alleine. Hoch oben ziehen drei Gänsegeier majestätisch ihre Runden. Fast ebenso hoch oben jubilieren Bergpieper und lassen sich, lerchengleich, wieder fallen. Erste gelbe Ginsterblüten leuchten in der Sonne, der Hundszahn, Erythronium dens-canis, ist bereits verblüht, und man findet nur noch die gescheckten Blätter. Hier hat es vor ein paar Jahren gebrannt, aber die Vegetation hat sich schon recht gut erholt. Ab und zu ein pink blühendes Knabenkraut, einzelne Spinnenragwurzen, Ophrys sphegodes, sowie die eindrücklich hochgewachsene Mastorchis, Himantoglossum robertiana, sind die häufigsten Vertreterinnen aus der Familie der Orchideen. Ein paar Tarentaise-Kühe mit ihren Kälbern werden hier oben um das Croix de la Plastra auf gut 1000 m ü. M. gesömmert. Ihre Euter sind übersät mit Zecken.

Dann ist wieder Schluss mit Höhenweg, ein weiteres Tal tut sich auf. Im Val du Paillon liegt, auf einer Krete über dem Bach, das malerische, schmucke Lucéram, umgeben von, schattenhalb, blühenden Obstgärten mit Kirschen, Pflaumen und Birnen, auf den Terrassen am Bach angelegten, üppigen Gemüsegärten, sowie, sonnenhalb, ausgedehnten, terrassierten Olivenhainen. Und weil es ein so schönes, freundliches Dorf ist, gibt es dort auch Brunnen und einen Wasserhahn mit Trinkwasser, wo ich erstmal jede Zelle meines Körpers mit dem kostbaren Nass tränke. Dem Durst geht es wahrlich prächtig auf dieser Tour!

Unterdessen hat die Sonne wacker gewärmt, und der Aufstieg zum Col St-Roch ist schweisstreibend. Zahlreiche Mauereidechsen sonnen sich und jagen nach Futter. Gefühlt alle 100 Meter verschwindet eine Schlange in ihrem Versteck, mal zügig, wohl eine Zorn- oder Äskulapnatter, öfter eher gemächlich, was auf eine Viper schliessen lässt. Zu meinem Bedauern bekomme ich aber keines der Reptilien zu Gesicht, der Weg verlangt viel Aufmerksamkeit, und obendrauf muss man auch das Glück haben, die Schlange in der dichten Vegetation, wo sie perfekt getarnt ist, zu entdecken. Aber es freut mich trotzdem, dass sie da sind.
Der Thymian duftet, ebenso der blühende Rosmarin und die weissen und pinkfarbenen Zistrosenblüten leuchten. Bläulinge und ein Grosser Fuchs gaukeln vorbei.
Der Wanderweg wird geschickt abseits der Strasse geführt, oft ist noch das alte Wegtrassée erhalten. Bis zum Col de la Porte muss man dann, bis auf ein kleines Stück, mehr oder weniger der Strasse folgen. Da diese tagsüber jedoch wegen Bauarbeiten, von denen aber nichts zu sehen ist, gesperrt ist, fährt kein einziges Auto durch. Glück muss man haben!
Langsam wird es Abend, dunkle Wolken ziehen auf, es weht ein unangenehm kalter Wind, der die hohen Pinien schwanken lässt. Wieder hat mich die Einsamkeit, zuerst noch Piste, dann schöner Weg, unten im Tal fliesst der Ruisseau d’Infernet. Ein Schwarzspecht fliegt auf, landet an einem Kiefernstamm, wunderschön glänzt sein schwarzes Gefieder mit der roten Haube im Abendlicht. Ganz langsam verliert der Weg an Höhe, ab und zu ein Bächlein, auf die Kiefern folgen Buchen, Buchs, zahllose Leberblümchen, und Zecken! Alle paar Minuten muss ich einen von der Hose wegschnippen. Das Gras links und rechts des Weges steht hoch, und somit finden sie leicht den Weg zu mir. Morgen werde ich Schwarzkümmelöl einreiben, das hilft, den Geruch mögen die Zecken nicht. Alle paar hundert Meter ein neues Kuckucksrevier; ich finde es immer wieder verblüffend, wie unterschiedlich die einzelnen Individuen «kuckucken». Ein Stückchen vor Bonvilars, einem abgelegenen Gehöft, lichtet sich der Wald zu einer alten, aufgelassenen Terrassenlandschaft, wo ich unter einer grossen Esche ein perfekt ebenes Plätzchen für mein Zelt finde. Die Kleiber schwätzen miteinander, ein grosser Hirsch zieht grasend vorbei, und schon bald leuchtet der nun schon fast volle Mond vom Himmel. Ab und zu bellt ein Hund, eine Eule ruft.

Mittwoch, 9. April 2025, Bonvilars – Le Suquet – Le Figaret – Col de Gratteloup – St-Jean Baptiste

Heute Nacht ist, trotz des bedeckten Himmels, kein Tau gefallen, und ich kann ein trockenes Zelt einpacken. Das Vogelkonzert, eröffnet wiederum vom Rotkehlchen, beginnt etwas später, dafür dann umso vielstimmiger. Z’Morgen in der Dämmerung, ein Abstieg, ein langer Aufstieg und ein weiterer Abstieg sind heute zu bewältigen.
In Bonvilars grast eine grosse, bunte Ziegenherde, gut bewacht von den Patous. Ein Wendehals ruft; er findet hier, in der halboffenen, von vielen Hecken durchzogenen, extensiv genutzten Kulturlandschaft den perfekten Lebensraum, ebenso wie der wunderschön gefärbte Gartenrotschwanz. Beide benötigen sie offene Bodenstellen, quasi zur Verfügung gestellt von den Ziegen und Kühen, um Insekten oder Ameisen zu finden.
Dann folgt einer dieser fantastischen Wegabschnitte, bei denen man sofort realisiert, dass es sich um ein Schokoladenstückchen einer Tour handelt.

Der Ruisseau d’Infernet hat sich eine tiefe, eindrücklich schöne Schlucht in den Kalk gegraben, bevor er bei Le Suquet in die Vésubie mündet.

Im Wald blühen echte Schlüsselblumen, Veilchen und Leberblümchen, auf den weissen Kalkfelsen wachsen dicke, weiche, sattgrüne Moospolster und wunderschöne Flechten.

Drei Gämsen flüchten in weiten Sprüngen den steilen Hang hinauf. Im Zickzack geht es hinunter nach Le Suquet, einem kleinen Weiler mit Auberge und (noch geschlossenem) Campingplatz. Hier lässt mich erstmals die Wegmarkierung im Stich. Nachdem ich zwei umständlich mit Draht verschlossene Tore durch einen verwahrlost wirkendenden Kinderspielspielplatz geknackt und den Junk Yard eines ebenso verwahrlost wirkenden Gehöfts durchquert habe, stehe ich am Zusammenfluss von Vésubie und Riou du Figaret, aber die auf der Karte eingezeichnete Brücke ist weg, wohl weggeschwemmt vom letzten Hochwasser. Also demi-tour, wieder Drähte öffnen und schliessen, ein Stück auf der Strasse zurücklegen und mich an den Eidechsen und Wildblumen freuen, bevor ich kurz vor Le Figaret wieder auf den Wanderweg wechseln kann, welcher bis Le Blaquet abwechselnd durch lichten Wald und vorbei an wunderschönen, gepflegten Oliventerrassen führt. Die kurzen sonnigen Abschnitte des Vormittags machen erneut dicken grauen Wolken Platz. Das macht zwar die 1100 Höhenmeter Aufstieg zum Col de Gratteloup, nomen est omen, sehr angenehm, aber ein wenig Sonne würde ich auch nehmen. Die Landschaft ist nämlich wunderschön, helle Kalkwände, ein Meer von blühendem Thymian und eine grossartige Weganlage, wie es sie wohl nur in den Südalpen gibt.

Ein Steinadler zieht schwerelos seine Kreise. Langsam lasse ich die Zivilisation hinter mir, Einsamkeit umfängt mich, nicht zuletzt auch erkennbar an den zahlreichen Spuren von Wolfskot.

Seit sich der Wolf im Parc National du Mercantour wieder etablieren konnte, ist er auch im provençalischen Hinterland erneut heimisch geworden. Darum sieht man hier, ebenso wie ennet der Grenze in Italien, NIE eine nicht behirtete und von Hütehunden bewachte Schaf- oder Ziegenherde. Was hier seit vielen Jahren Usus ist bzw. gar nie anders war, wird in der Schweiz nach wie vor diskutiert und noch viel zu wenig umgesetzt. Wir machen lieber Studien, anstatt zu handeln, bevor die letzte Ziegenherde die Alpen verlassen hat oder der letzte Heugümper im Mähaufbereiter zerhäckselt worden ist ….

Auf der Passhöhe wachsen uralte, vom Wind knorrig geformte Pinien, auf dem Waldboden blühen grosse Bestände weisser und blauer Leberblümchen einträchtig nebeneinander, und als dann noch Nebel aufzieht, wird die Stimmung märchenhaft mystisch. Leichter Regen beginnt zu fallen.

So tadellos unterhalten und markiert der Weg bis zur Passhöhe ist, so vernachlässigt und schlecht wird er beim steilen Abstieg.

Immer wieder umgestürzte Bäume, welche umgangen, überklettert, oder, am mühsamsten, unterkrochen werden müssen, manchmal mit dem Rucksack auf dem Rücken, mal zuerst das Gepäck, dann ich. Das rutschige Terrain und die grossen Stufen erschweren den Abstieg, doch immerhin 800 Höhenmeter, zusätzlich. Nach bald 10 Stunden auf den Beinen bräuchte ich das eigentlich nicht mehr, ebenso wenig die unglaublich vielen Zecken. Entschädigt werde ich durch einige uralte, majestätische, riesengrosse Eichen. Wenn diese Bäume erzählen könnten, was sie in ihrem langen Leben schon alles gesehen und gehört haben, könnte man wohl viele Stunden unter ihrem ausladenden Kronendach verbringen.

Auch heute brauche ich ein Plätzchen für mein Zelt und werde, wie so häufig im Süden, bei einer Kapelle fündig, auf einem kleinen Wieslein mit Aussicht auf die umliegenden Berge. Der heilige Jean Baptiste nimmt mich heute Nacht unter seine Fittiche. Der Regen hört auf, Kuckuck und Kleiber rufen, und neugierige Mauereidechsen beäugen mich beim Z’Nacht essen, Menue 1, comme d’habitude.

Donnerstag, 10. April 2025; St. Jean Baptiste – La Tour-sur-Tinée – Tournefort – Massoins – Vilars-sur-Var – Chapelle St. Jean

In der Nacht ruft erneut das Käuzchen, und es klart auf, Sterne blinken am Firmament, der fast volle Mond leuchtet hell. Ein sonniger Tag erwartet mich, vielstimmig begrüsst von den zahlreich singenden Vögeln. Erstaunlicherweise ist kaum Tau gefallen, und ich kann ein praktisch trockenes Zelt einpacken.
Ab hier ist auch der Weg wieder vom Feinsten, was mich nicht weiter überrascht. Kirchen sind wichtig, und zumindest am Tag des Schutzheiligen findet oft eine Prozession statt, was nach einem guten Weg verlangt, was auch wir Wanderer sehr zu schätzen wissen. Jedenfalls geniesse ich wieder einmal ein solches Schoggistückchen bis nach La-Tour-sur-Tinée.
Der frühe Morgen hat für mich immer etwas Magisches, und das zauberhafte Licht, welches die Sonne im gerade ergrünenden Laubwald mit seinen grossen Eichen und sogar eine paar wenigen Edelkastanienbäumen sowie seinen moosbewachsenen, hellen Kalkbrocken wirft, trägt seinen Teil dazu bei. Kleiber schwätzen und Mauereidechsen wärmen sich auf den Mäuerchen, welche die alte Mulattiera säumen, in der Sonne auf.
Nach dem Pont St. Jean, welcher den Ruisseau St. Jean überspannt – der gute Heilige scheint in dieser Gegend ein populärer Schutzpatron zu sein – wird es, da ich nun sonnenhalb wandere, sehr viel trockener. Der Wald macht der Garrigue Platz, welche in voller Blüte steht. Ein Magnet für Schmetterlinge und andere Insekten, und Balsam für meine güllegeplagte Mostindien-Nase, im Speziellen natürlich die violetten Thymianteppiche sowie die gelb blühende Mittelmeerstrohblume, Helichrysum stoechas, auch bekannt als Currykraut. 😊

Auch La-Tour-sur-Tinée liegt malerisch auf einer Krete, umgeben von blühenden Obst- und Gemüsegärten. Da der Wetterbericht bereits letzte Woche darauf hindeutete, dass sich wahrscheinlich ein Tief nähert, schalte ich beim Lavoir, dem alten Waschhaus, wo sich auch die kleine Ölmühle des Dorfes befindet, erstmals wieder mein Handy ein, und habe sogar Empfang. Ja, es sieht nicht mehr für lange gut aus ☹ Ein Telefonat mit Jean bestätigt dies, ab Sonntag soll es regnen, und dies nicht zu knapp. Damit ist klar, dass ich bis Samstagabend in Puget-Théniers sein muss, wo es einen Bahnhof gibt. Linus als zweites Mitglied meines Support-Teams rufe ich ebenfalls an, und er wird mir meine Heimreise organisieren. Dafür zückt er alle ihm bekannten ÖV-Register, da ich, wenn möglich, vom gefühlten Ende der ÖV-Welt in einem Tag bis ans Ost-Ende der Schweiz kommen möchte. Aber schön der Reihe nach, vorläufig bin ich noch unter südlicher Sonne. Und diese lässt heute ihre Muskeln spielen.

Obwohl mir das Wasser im Lavoir nicht ganz koscher erscheint, fülle ich meine Platypus-Beutel auf. Während in den Lavatoi im Tessin oder in Italien immer Trinkwasser aus der Röhre fliesst, ist dies in diesem Teil Frankreichs fast nie der Fall. Als ich nach einer halben Stunde an einem klar fliessenden Bächlein vorbeikomme, rieche ich an meinem mit Micropur entkeimten Wasser, kann aber keinen Chlorgeruch feststellen, was kein gutes Zeichen ist. Also alles den durstigen Pflanzen spendieren und Wasser am Bach zapfen, welches von guter Qualität ist.
In stetem Auf und Ab und nicht immer gut markiert führt der Weg, mal schön über Terrassen mit Ölbäumen und Ragwurzen, mal weniger schön über rutschige Schieferhalden, durch von der Sonne aufgeheizten, duftenden Kiefernwald hinunter zur Tinée. Dort, wo ein Seitenbach in den Fluss mündet und ein paar badewannengrosse Gumpen bildet, mache ich Mittagspause, heute mit Bad. Wie das gut tut!
Bläulinge kommen zum Trinken, Segelfalter gaukeln vorbei, ein Trauermantel zeigt sich, Schwalbenschwänze vollführen ihren Balzflug, Aurorafalter und Mauerfuchs sind häufig, und die Mauereidechsen geniessen die Sonne.

Es ist heiss geworden. Zum Glück hat es heute keine Zecken, und ich kann erstmals die kurzen Hosen aus dem Rucksack holen. Oben in Tournefort läuft der Trinkwasserhahn nicht, das Wasser im Lavoir macht mir auch hier keinen guten Eindruck, und als ich dann ein paar Hundert Meter weiter oben in einer Zisterne, welche das Waschhäuschen speist, eine tote Kröte entdecke, ist klar, dass es ab nun heisst: Wasser einteilen!
Was auf der Karte nach wenig aussieht, ist in Wirklichkeit heute ein fast endlos erscheinendes Auslaufen zahlreicher Gräben, Töbelchen und Talkessel, und immer schön rauf und runter, einmal so weit hinunter und auf der anderen Seite wieder ebenso weit hinauf nach Massoins, dass ich sogar, was ich sonst fast nie freiwillig tue, ein paar Kilometer der, zum Glück kaum befahrenen, Strasse folge. Im hübschen Massoins dann dieselbe desolate Wassersituation. Ich gehe in allen Gässchen nachschauen, nicht mal bei der Kirche läuft der Trinkwasserhahn. Und alle Bächlein sind trocken. Man sieht es auch der Vegetation an, dass es hier viel weniger geregnet hat. Kaum mehr Leberblümchen im Wald, und auch der Thymian blüht nurmehr spärlich. Ich bin sehr froh, dass der Weg mehrheitlich durch den Wald führt.
Einmal komme ich an einem Gehöft vorbei, wo prominent eine grosse Tafel steht, dass man sich hier auf Privatland befinde, den Weg nicht verlassen dürfe und die Eigentümer nur Fussgänger, aber keine Mountainbiker tolerieren würden. Bei aller Liebe zu diesem wunderbaren Land, aber die Manie der Franzosen mit ihrem «Proprieté privée – Défense d’entrer» mutet schon etwas eigenartig an und, ehrlich gesagt, nervt es irgendwie auch. Ist ja logisch, dass man nicht einfach durch einen privaten Garten spaziert, aber ein Wanderweg im Wald oder Agrarland? Dies erklärt wohl auch, dass der Weg manchmal völlig erratische Kurven macht, obwohl es auch eine direkte Linie gäbe.
Auch vor Vilars-sur-Var liegt wieder ein Tobel. Die Ortschaft erreicht man quasi durch den Hintereingang. Irgendeine Kanalisationsröhre scheint geborsten und wird repariert, entsprechend unangenehm riecht es. Das 700-Seelen Dorf hingegen empfängt mich mit engen, gepflegten Gässchen, einem belebten Platz mit einer Kirche und einem Restaurant – und einem funktionierenden Trinkwasserhahn!! So viel Wasser auf’s Mal habe ich glaub ich noch nie getrunken!

Frisch gestärkt kann ich so die letzten 400 Höhenmeter des Tages angehen. Und dies auf einer fantastischen Mulattiera mit einer ebenso grandiosen Aussicht auf das Tal des mittleren Var. Wären da nicht eine Hauptstrasse und eine Bahnlinie, man könnte sich irgendwo im Hohen Norden wähnen. Der türkisfarbene Fluss hat nahezu allen Platz, den er benötigt, er darf frei mäandrieren, Schlaufen legen und sich auch mal durch eine Engstelle oder eine Schlucht zwängen. Eindrücklich!

Wieder einmal hoffe ich auf ein Plätzchen bei einer Kirche, ansonsten müsste ich in der steinig-steilen Garrigue wohl auf dem Weg meinen Schlafsack ausrollen. Aber auch heute hält der gute St. Jean seine schützende Hand über mich 😊 Das Gotteshaus liegt auf einer Anhöhe hoch über dem Tal, umgeben von schönen alten Bäumen und ein paar mehr oder weniger ebenen Wieslein, wo sich ein gemütliches Plätzchen mit Aussicht findet.

Heute hält das Wetter, und ich muss kein Zelt aufstellen. Im letzten Abendlicht verspeise ich meinen Z’Nacht, schaue den Fledermäusen beim Jagen und dem fast vollen Mond beim Aufgehen zu. Wieder einer dieser magischen Momente, welcher für alle Mühen und geschwitzte Schweisstropfen entschädigt.

Freitag, 11. April 2025; Chapelle St. Jean – Ste Madeleine – Villa Souberre – La Madone – Thiéry – Lieuche – Rigaud – St. Sauveur

Nach einer taufrischen, mondhellen Nacht heisst es auch heute in der Dämmerung Z’Morgen essen und packen. Ein langer Tag liegt vor mir…. Zum Glück weiss ich nicht, dass er seehr lange werden wird, länger noch als seine Vorgänger. Und das ist gut so, da ich sonst wohl weniger im Moment leben und diesen geniessen würde.


Da ich hier oben eine weite Rundumsicht habe, kann ich sehr gut sehen, wie sich im Osten vom Meer her ein riesiger Nebel-Wolkenhaufen gegen Norden hinschiebt und schon bald einmal die schneebedeckten Gipfel einhüllt. Ein klares Zeichen, dass das Wetter nicht mehr sehr lange halten wird und ich wohl richtig entschieden habe. Mit einem Genua-Tief ist nicht zu spassen!
Weiter geht es auf dem Saumpfad den Berg hoch, anfangs noch Garrigue, dann ein lichter Eichen-Pinien-Wald. Auf Ste-Madeleine, einer recht weitläufigen, mit blühendem Schwarzdorn durchsetzten Pferdealp, lehne ich meinen Rucksack an ein Mäuerchen, um ein paar Fotos zu machen. Als ich zurückkomme, hat es sich eine Smaragdeidechse darauf bequem gemacht, um sich mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf Betriebstemperatur zu bringen.

Ab hier führt ein schmaler, klug in’s steile Gelände am Fusse der Pointe Chavanette gefügter Pfad hinauf nach Villa Souberre. Zu Beginn wandere ich im duftenden Pinienwald, dann ein Stück durch ehemaliges, steiles, schieferiges Waldbrandgebiet.

Die Vegetation beginnt sich bereits zu erholen, Schmetterlinge besuchen die Blumen auf der sonnigen Halde, und es wachsen erstaunlich viele Ragwurzen, Ophrys apifera und Ophrys aranifera.

In Villa Souberre, kein Weiler, sondern eine Alp, mache ich Mittagsrast und trockne meinen taunassen Biwak- und Schlafsack. Ein paar Gartenrotschwänze leisten mir Gesellschaft, und erstmals höre ich den Wiedehopf rufen 😊 Und es gibt eine Zisterne mit Trinkwasserbrunnen – gepriesen sei das Vallée du Var! Es ist immer wieder verblüffend, wie rasch solch alltägliche «Kleinigkeiten» wie eben Trinkwasser oder auch Wanderwegmarkierungen von Dorf zu Dorf oder Tal zu Tal ändern können, obwohl es hier genau so trocken ist wie im Vallée du Tinée und ich nach wie vor auf dem GR®510 unterwegs bin.

Da der GR schattenhalb auf einer Forststrasse bis Thiéry führt, nehme ich den Wanderweg über La Madone, sonnenhalb, zuerst durch lichten Wald und heckenbestandene Kulturlandschaft, nach dem Weiler – ebenfalls mit Trinkwasserbrunnen – entlang des Ruisseau de Thiéry, wo es schattiger, kühler und feuchter ist.

Dementsprechend üppig wachsen und blühen die Blumen, echte Schlüsselblumen, Kuckuckslichtnelken, Leberblümchen und zahlreiche Aurorafalter und Zitronenfalter finden auf den terrassierten Blumenwiesen Nahrung. Allüberall sonnen sich die Mauereidechsen.

Vor Thiéry wird es wieder trockener, grosse blühende Polster mit Hauswurz und Thymian.

Das hübsche Dörflein, wo ich nochmals meinen Wasservorrat auffüllen kann, liegt wie ein Adlerhorst über den tiefen Tobeln des Ruisseau de Thiéry und des Ruisseau de l’Arsilane. Tja, und das bedeutet natürlich auch wieder etliche Hundert Höhenmeter Ab- und Aufstieg. Erneut sage ich danke für den Waldreichtum der Gegend. Es riecht wunderbar nach Harz. In der Mittagshitze sind die Vögel verstummt. Unten am klaren Bächlein wäre der perfekte Biwakplatz, aber ich muss weiter, da ich es sonst bis morgen Abend nicht nach Puget-Théniers schaffe. Oben auf der Baisse du Grand Palier ein Meer von blühendem, von unzähligen Insekten besuchten Schwarzdorn, aus welchem die Grasmücken, wohl Dorn- und Weissbartgrasmücken, rufen.

Unter mir liegt das Vallon de Chaudanne, tief und steil eingeschnitten in die Schieferhalden, und am gegenüberliegenden Hang das Dörfchen Lieuche. Der Weg ist teilweise ein bisschen exponiert und rutschig, aber sehr gut unterhalten. Vor Lieuche begrüsst mich eine kleine Eselherde.

Nach Varlonge am Cians hinunter führt der Weg immer wieder abseits der Strasse, aber danach plagt mich für eine Viertelstunde der Verkehr, bevor es, erneut über eine schieferige Halde, unschön-rutschig hinauf nach Rigaud geht. Man ist jedoch gezwungen, diese Route zu nehmen, da hier die Gorge du Cians beginnt, in der es bis zur Mündung in den Var keine Brücke gibt.
Nach dem eher mit herbem Charme ausgestatteten Lieuche ist Rigaud ein freundliches Dorf. Grosse Schwalbentrupps und Mauersegler jagen um die kleine Kirche, und es gibt Wasser!

Langsam aber sicher wird es Abend. Wieder verlasse ich den GR und wähle stattdessen die Route über das Plateau de Dina. Steil und effizient geht es die rund 400 Höhenmeter, die letzten für heute, nach oben. Das Tageslicht wird rasch weniger. Eigentlich hatte ich gehofft, hier irgendwo biwakieren zu können, aber alle paar Minuten kommt ein Gehöft oder ein Wohnhaus, bei der Chapelle St. Sauveur hat es kein Plätzchen, also auf der anderen Seite schauen, nun mit Stirnlampe, und nach gut zehn Minuten werde ich fündig, nicht optimal, aber die kleine Nische am Waldrand ergibt eine passable Notschlafstelle. Für einmal bin ich froh um den Vollmond, er leuchtet mir mit seinem sanften Licht beim Einrichten meines Schlafplatzes. Zum Essen bin ich irgendwie zu müde, ich rolle mich in die Daunen, irgendwo schnuffeln ein paar Sangliers, und ich lausche der Zwergohreule, welche mich die ganze Nacht hindurch mit ihrem Glögglifroschruf erfreut.

Samstag, 12. April 2025; St. Sauveur – Chapelle St. Jean – Charbonnel – Collet des Aubrics – Puget-Rostang – Puget-Théniers

In der Nacht sind Wolken aufgezogen, der Mond hat sich dahinter versteckt. Im ersten Tageslicht futtere ich mein Müesli und packe zusammen. Ich will aber schon noch ein wenig genauer wissen, wo ich heute Nacht geschlafen habe. Keine hundert Meter entfernt tut sich vor mir die eindrückliche und tief in den Kalk gegrabene Gorge du Cians auf. Nun weiss ich auch, welch veritables Hindernis es da zu umwandern galt.

Noch für eine gute Viertelstunde muss ich weiter der Piste von gestern folgen, dann biegt rechts den Hang hinauf der Wanderweg ab, und hier wäre der perfekte Biwakplatz auf ein paar Terrässchen gewesen…. Schade, aber das konnte ich nun wirklich nicht wissen. Trotzdem geniesse ich die folgenden paar Stundendurch die extensive Kulturlandschaft in vollen Zügen. Der Wiedehopf ruft, «natürlich» auch hier der Kuckuck, Kleiber, verschiedene Meisen und Laubsänger, Kolkrabe, Turmfalke, Zaunkönig, Rotkehlchen, Buntspecht, und noch viele mehr. Im urtümlichen anmutenden Eichenmittelwald fühlt sich möglicherweise auch der Mittelspecht wohl, aber ich kann keinen hören.

Um Weide- und Ackerland zu gewinnen, wurden über die Jahrhunderte gigantische Lesesteinhaufen aufgeschichtet und Mäuerchen gebaut. Auch hier ist der Kalkstein mit dicken Moospolstern bewachsen. Die Eichenstämme sind dicht mit Flechten überzogen. Das Plateau de Dina ist auch so ein Schoggistückchen, wohin frau gerne wieder zurückkommen würde.
Manchmal schaffen es paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, dann wieder fällt leichter Nieselregen, dann öffnet der Himmel seine Schleusen, und ich schaffe es gerade noch unter das schützende Kronendach einer riesigen Eiche vor der Chapelle St-Julien, um meine Regensachen anzuziehen. Der Schauer währt jedoch nur kurz, und dann wagt sich erneut die Sonne hervor. Die Aussicht ist fantastisch, ein guter Grund, an diesem wunderschönen Plätzchen Mittagspause zu machen. An solchen Kraftorten steht ja oft eine Kapelle oder eine Kirche, unsere Urahnen spürten und kannten diese Orte sehr wohl. Damit sich die neue Religion festsetzen konnte, wurden hier häufig Gotteshäuser errichtet, divide et impera, schon immer, seit die egalitäre, paläolithische Kultur verdrängt und überlagert wurde.

Nach dem Maison Forestière de la Chaise, erbaut vor mehreren Jahrzehnten, als die damals kahlen Hänge wieder aufgeforstet wurden, habe ich, so denke ich zumindest, mehrere Möglichkeiten, um nach Puget-Théniers zu gelangen. Ich entscheide mich für die Route über die Roccia d’Abeilla, nicht nur des Namens wegen, sondern auch wegen der Aussicht, die man hat oder hätte.

Denn, Fehlanzeige, beim Collet des Aubrics steht ein Schild mit der Aufschrift «Sentier fermé – accéss interdit».

Also Plan B und direkt hinunter zum Torrent Mayola, und dann, ein paar hundert Höhenmeter tiefer ein Erdrutsch, umgestürzte, kreuz und quer liegende Bäume, mit dem schweren Rucksack kein Durchkommen im steil abfallenden, rutschigen Schieferhang, da bleibt nur demi tour, alles wieder hinauf, und auf dem GR nach Puget-Rostang.

Auch dies ein hübsches Dorf, für einmal nicht auf einer Krete, sondern am Bach, sogar eine kleine Auberge gibt es hier.

Der Bus, vornehmlich für die Schulkinder, fährt nur werktags, talauswärts am frühen Morgen und taleinwärts am späten Nachmittag, also gilt es auf der Strasse zu laufen. Irgendwie kommt mir das doch bekannt vor, schon das letzte Stück des E4 musste ich, weil Weg unauffindbar bzw. zugewachsen, auf der Schnellstrasse nach Gytheio zurücklegen. Hier ist es glücklicherweise nur eine sehr wenig befahrene Nebenstrasse, aber viereinhalb Kilometer Asphalt sind und bleiben viereinhalb Kilometer Asphalt. Das Glück ist mir aber doch noch hold. Bei Gué zweigt ein schmaler, zuerst nur unklar erkennbarer Pfad ab, und entlang abschüssiger Hänge geht es so bis fast nach Puget-Théniers. Tief unten fliesst der Bach, mich hüllt nochmals duftender Pinienwald ein, Kalk, Thymian, erster gelb blühender Ginster, und, zum Schluss, ein Osterluzeifalter. Wieder einmal, und wie so oft nach allen Höhenmetern, nötig und unnötig, umkehren, tippeln auf Teer –  dieser wunderschöne, mediterrane Falter macht es alles wieder wett 😊

Es ist Abend geworden, als ich in Puget-Théniers einlaufe, mit fast 2000 Einwohnern die grösste Ortschaft auf meiner Tour. Im Park findet eine opulente Hochzeit mit zahlreichen Gästen statt. Das kleine, freundliche Hotel, wo Jean für mich ein Zimmer reserviert hat, liegt gegenüber dem Bahnhof. Nach einer Woche Katzenwäsche tut eine Dusche richtig gut. Im Carrefour kaufe ich mir ein Kilo Orangen, die gibt es heute zum Z’Nacht. Dann noch kurz auskundschaften, wo ich morgen früh auf den Bus muss. Frühmorgens fährt nämlich noch kein Zug auf der Schmalspurstrecke zwischen Digne-les-Bains und Nizza, auch bestätigt vom sehr hilfsbereiten und freundlichen Bahnhofsvorstand. Ja, diesen Beruf gibt es in Frankreich noch! Vor dem schlafen gehen telefoniere ich noch mit Linus. Meine Heimreise ist ja nicht ganz ohne, und ich bin unglaublich froh, dass er das alles, quer durch verschiedene Bus- und Bahnunternehmen, für mich organisiert hat! Mit dem bescheidenen Handyempfang in den Bergen wäre dies praktisch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.
In der Nacht setzt sanfter Regen ein, und ich schlafe sogar ein paar Stunden.

Sonntag, 13. April 2025; Puget-Théniers – Nice – Ventimiglia – Genova Piazza Principe – Milano Centrale – Lugano – Zürich – St.Gallen – Freidorf

Da ich um 8 an der Bushaltestelle sein muss, wurde extra für mich das grosszügige Z’Morgenbuffet bereits um 7 Uhr parat gemacht 😊 Gut gestärkt nehme ich die lange Heimreise in Angriff. Der Bus kommt pünktlich, und ich kann nochmals das Vallée du Var geniessen, diesmal in rasantem Tempo. Dann wird die Landschaft flacher, Ballungsraum Nizza, au revoir Einsamkeit. Vom Busbahnhof geht es die Treppe hoch zum SNCF-Bahnhof, der Zug nach Ventimiglia fährt ebenfalls pünktlich und ist rammelvoll. In Ventimiglia habe ich etwas Aufenthalt, da die vorhergehende Verbindung mit einer knappen Viertelstunde eher sportlich gewesen wäre, dachten wir wenigstens. Aber die Züge auf dieser Linie, alle 30 Minuten einer, verkehren pünktlich. Gut zu wissen für’s nächste Mal. Zwischen Ventimiglia und Genua hingegen harzt es, wir stehen lange auf offener Strecke, es regnet in Strömen, was das alte Rollmaterial noch trister erscheinen lässt, aber dank genügend Umsteigezeit reicht es. Im Hafen von Genua liegen gigantische Kreuzfahrtschiffe vor Anker, die Stadt wirkt grau und ist sehr schmutzig, überall liegt Abfall ☹
Die Fahrt nach Milano ist nach all den grandiosen Landschaften doch eher langweilig, aber der Zug ist neu und hell und halbleer. In Milano Centrale dann wieder dasselbe Menschengewusel wie vor einer Woche. Der Zug nach Lugano ist vollbesetzt; allem Anschein nach verbringen viele Tessiner am Wochenende ein paar Stunden in der norditalienischen Metropole.
In Lugano habe ich mit 3 Minuten Umsteigezeit einen Turnschuhanschluss, aber ich schaffe es, und auch in Zürich komme ich pünktlich an. Nach fast 15 Stunden Reise treffe ich ziemlich erledigt in St.Gallen ein. Jean, der einen gemütlichen Abend mit Linus verbracht hat, holt mich ab, und so habe ich auf den letzten Kilometern sogar noch ein privates Taxi 😊

Nachwort

Die nächsten Tage wird es im Süden regnen, vom Tessin über’s Piemont bis in die südfranzösischen Alpen. Im Piemont fallen an einem Tag 500 mm Regen, die Po-Ebene steht unter Wasser! Es war daher weise, die Tour im Vallée du Var zu beenden. Ich habe eine für mich komplett neue Region entdeckt, in der es sich bereits im Frühling wunderschön wandern lässt, Grund genug, wiederzukommen.

Donc, bonne continuation l’année prochaine – j’espère 😊

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